Let Me Grow: Das stille Manifest von Dry Cleaning
Bearbeitet von: Inna Horoshkina One
In einer Ära, in der Musik zunehmend von Algorithmen und digitalen Formaten dominiert wird, liefern Dry Cleaning nicht einfach einen weiteren Hit, sondern ein tiefes Gefühl. Der Titel „Let Me Grow and You’ll See The Fruit“ klingt wie eine dringende Bitte – nicht nur des Einzelnen, der in Hyperfokus und Isolation gefangen ist, sondern auch der Musik selbst: Man fordert Zeit, Raum und die Möglichkeit zur Entfaltung.
Die Band, die sonst für ihre kantige Härte und nervöse Präzision bekannt ist, integriert in diesem neuen Stück bewusst Leerräume und Pausen. In diesen stillen Momenten lässt sich die Neuausrichtung der Rock-Geometrie erspüren: Weniger roher Schlag, dafür mehr Präsenz; weniger Pose, dafür mehr Authentizität; weniger lauter Schrei, dafür ein aufmerksamer, fast geflüsterter Blick nach innen.
Faktisch betrachtet präsentiert sich die Ankündigung solide und fast schon traditionell: Das dritte Studioalbum der Band, betitelt Secret Love, wird am 9. Januar 2026 über 4AD erscheinen. Es folgt auf die Vorgänger New Long Leg und Stumpwork (für dessen Artwork die Gruppe bekanntermaßen einen Grammy erhielt). Inhaltlich markiert es jedoch eine klare Kehrtwende. Im Gegensatz zur gewohnten Schärfe und dem angespannten Gitarren-Druck wirkt „Let Me Grow…“ zurückhaltender. Die Musik tritt einen Schritt zurück, um der Stimme von Florence Shaw mehr Raum zu geben. Sie selbst beschreibt den Text als ein Tagebuch-Bekenntnis, verfasst im Bewusstseinsstrom, das sich um Hyperfokus und Einsamkeit dreht – keine politischen Parolen, sondern der innere Monolog einer Person, die ihre eigenen Gedanken zu laut hört.
Der Wechsel des Produzenten ist hier fast wie eine Änderung der Perspektive spürbar. Anstelle des langjährigen Kollaborateurs John Parish trat die walisische Musikerin Cate Le Bon, bekannt für ihre Arbeit mit Wilco und Deerhunter. Das Material wurde fragmentarisch zusammengetragen: angefangen bei Jams in Jeff Tweedy’s The Loft in Chicago, über Aufnahmen in den Sonic Studios in Dublin mit Alan Duggan und Daniel Fox von Gilla Band, bis hin zur finalen Aufnahme auf der Black Box Farm im französischen Loiretal. Das Resultat ist ein Post-Punk, der sich an einer Schnittstelle positioniert, wo früher amerikanischer Punk der 80er, Stoner Rock und No Wave zu einer eigentümlichen, doch stimmigen Klangarchitektur verschmelzen. Shaws rezitativer Gesang wird dabei nicht zum Gimmick, sondern zur eigentlichen Nervenbahn des gesamten Albums.
Im dazugehörigen Video zu „Let Me Grow and You’ll See The Fruit“ wird diese innere Arbeit buchstäblich verkörpert. Das Choreografie-Duo BULLYACHE transformiert den Song in einen Bewegungszyklus, während der Musiker Bruce Lamont aus Chicago – dessen Saxophonklang im Track hörbar ist – tanzt, als wäre jede Körperbewegung mit jeder Note verbunden. Dies ist keine Ästhetik des „schönen Post-Punk-Clips“; es ist der Versuch zu zeigen, dass Wachstum nicht nur eine abstrakte Idee ist, sondern auch körperliche Anstrengung und die ständige, winzige Korrektur des eigenen Schrittes erfordert.
Zwar existieren im Hintergrund weiterhin die „feindlichen Wirtschaftskräfte“, die Tourneen erschweren und Auftritte kompliziert machen. Doch im großen Ganzen der aktuellen Musiklandschaft stellen diese lediglich den Widerstand der Umwelt dar. Wesentlicher ist die Beharrlichkeit der Musik selbst: Sie besteht auf ihrem Recht zu wachsen, anstatt nur schnell zu verglühen und sich rentieren zu müssen.
Was dieser Song der Klanglandschaft hinzufügt, lässt sich schlicht zusammenfassen: Während viele aktuelle Titel auf den sofortigen Effekt abzielen, bringt „Let Me Grow and You’ll See The Fruit“ eine essenzielle Gegenstimme in den Chor ein: Nicht alles muss sofort zünden. Manchmal kommt Musik in die Welt, um in aller Ruhe mitzuteilen: Ich bin da, ich entwickle mich – achte nicht auf meinen Lärm, sondern auf meine Früchte.
7 Ansichten
Quellen
Far Out Magazine
Wikipedia
Indie is not a genre
The Needle Drop
Our Culture Mag
Indie is not a genre
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