Die getrennten Pfade der Wahrnehmung: Wie das Gehirn innere Vorstellung und äußeren Raum unterscheidet

Bearbeitet von: Elena HealthEnergy

Jüngste Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft beleuchten einen grundlegenden Unterschied in der Art und Weise, wie das menschliche Gehirn räumliche Informationen verarbeitet. Dabei wird klar unterschieden, ob diese Informationen aus der direkten äußeren Wahrnehmung stammen oder durch reine Vorstellungskraft generiert werden. Diese Unterscheidung ist nicht nur philosophisch, sondern tief in unserer Biologie verwurzelt. Eine wegweisende Studie, die von Anthony Kleman und Catherine Tallon-Baudry an der renommierten École normale supérieure in Paris geleitet wurde, lieferte hierzu entscheidende Beweise. Die Ergebnisse dieser Untersuchung wurden am 8. Oktober 2025 im angesehenen Fachjournal Journal of Neuroscience veröffentlicht und zeigen auf, dass für die mentale Visualisierung und die unmittelbare visuelle Wahrnehmung gänzlich unterschiedliche neuronale Mechanismen zum Einsatz kommen.

Um diese funktionelle Trennung experimentell zu belegen, führten die Wissenschaftler eine clevere kognitive Aufgabe durch. Die Probanden wurden gebeten, eine mentale Karte Frankreichs zu nutzen, um zu bestimmen, welche von zwei vorgegebenen Städten geografisch näher an Paris lag. Die detaillierten Aufzeichnungen der Hirnaktivität mittels bildgebender Verfahren während dieser kognitiven Herausforderung enthüllten eine klare funktionelle Trennung der Verarbeitungspfade. Während der direkten visuellen Wahrnehmung von Stimuli zeigten sich erwartungsgemäß starke Aktivierungen in den hinteren Hirnregionen – insbesondere den okzipitalen und parietalen Zonen –, die primär für die Verarbeitung externer Reize und die räumliche Orientierung zuständig sind.

Der entscheidende Befund trat zutage, als die Teilnehmer die innere Vorstellungskraft bemühten: Die neuronale Aktivität verlagerte sich signifikant. Anstatt die hinteren visuellen Areale zu dominieren, konzentrierte sich die Aktivität nun auf die vorderen, frontalen Bereiche des Gehirns. Diese Verschiebung von der sensorischen Verarbeitung (hinten) zur kognitiven Steuerung und Planung (vorne) bestätigt die Hypothese, dass interne Bilder nicht einfach nur schwächere Kopien externer Eindrücke sind. Vielmehr werden interne und externe Bilder über voneinander unabhängige Kaskaden neuronaler Prozesse verarbeitet und gesteuert.

Wie Studienleiter Kleman präzisiert, ist der interne „geistige Blick“ keineswegs eine bloße Wiederholung oder Spiegelung der Mechanismen des normalen Sehens. Stattdessen handelt es sich um einen aktiven Konstruktionsprozess. Diese klare Abgrenzung ist von immenser Bedeutung für das Verständnis der biologischen Grundlage, die es uns überhaupt erst ermöglicht, zwischen der Wahrnehmung der realen Welt und ihrer inneren Simulation zu unterscheiden. Diese Fähigkeit zur inneren Repräsentation und Modellbildung ist ein fundamentaler Baustein menschlichen Lernens, der Entscheidungsfindung und unserer gesamten Lebenserfahrung.

Zusätzliche neurowissenschaftliche Befunde unterstreichen die tiefgreifende Komplexität dieser mentalen Prozesse. Während die reine Lebhaftigkeit und Detailgenauigkeit visueller Vorstellungen eng mit der Aktivität der okzipitalen Kortex verknüpft ist, erfordern präzise räumliche Vorstellungen eine darüber hinausgehende Leistung. Sie benötigen die Verankerung in einem stabilen dreidimensionalen Bezugssystem. Dieses interne Referenzsystem wird nicht angeboren, sondern kontinuierlich durch die kumulierten Erfahrungen des Lebens geformt und ständig aktualisiert. Das Gehirn beweist somit eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit, indem es unterschiedliche „Routen“ für die Navigation in der äußeren Umgebung und in der inneren Gedankenwelt bereitstellt.

Die gewonnenen Erkenntnisse über diese neurologischen Unterschiede eröffnen vielversprechende Perspektiven für verschiedene praktische Anwendungsbereiche. Dazu gehören die Weiterentwicklung und Verfeinerung kognitiver Therapien, die auf die Modifikation innerer Vorstellungen abzielen. Ebenso relevant sind die Implikationen für die Gestaltung immersiver Technologien – von hochmoderner virtueller Realität (VR), die interne und externe Reize optimal verschmelzen muss, bis hin zu spezialisierten Systemen zur Aufmerksamkeits- und Konzentrationsschulung. Das tiefere Verständnis dieser unterschiedlichen Verarbeitungswege verspricht neue Horizonte für die Erforschung des vollen Potenzials des menschlichen Geistes und seiner Fähigkeit zur Selbstsimulation.

Quellen

  • Neuroscience News

  • Shaping the Space: A Role for the Hippocampus in Mental Imagery Formation

  • Where is the “where” in the brain? A meta‐analysis of neuroimaging studies on spatial cognition

  • Visual imagery of familiar people and places in category selective cortex

  • Functional Anatomy of Spatial Mental Imagery Generated from Verbal Instructions

  • Brain representations of space and time in episodic memory: A systematic review and meta-analysis

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